Tirana - 4
Die durchschnittliche Lebenerwartung in Deutschland ist 81,09 Jahre, die in Albanien 78,01. Ich habe das gerade nachgeschaut. Die Zahlen stammen für beide Länder aus dem Jahr 2015. Ich weiß auch nicht, wie ich drauf gekommen bin, mich dafür zu interessieren, aber möglicherweise deshalb, weil es ständig kein Wasser gibt in meinem Haus. Ich weiß schon, das klingt merkwürdig, aber stellen Sie sich mal vor, Sie gehen abends schlafen und haben kein Wasser zum Zähne putzen und stehen morgens auf und haben kein Wasser zum Zähneputzen. So ist das hier in meinem Haus nämlich. Ich erlebe das seit Montag, aber ich vermute, es geht schon länger so. Das Wasser in meinem Haus läuft ziemlich genau zwei Stunden lang, dann ist es wieder aus. In diesen zwei Stunden befülle ich inzwischen den Wasserkocher, eine große Plastikwanne und eine dicke Wasserflasche. Ich dusche, putze mir gründlich die Zähne und ich rege mich nicht auf. Ich rege mich auch in den restlichen zweiundzwanzig Stunden nicht darüber auf, dass ich jetzt im Wasserprekariat lebe, sondern begreife das, wie Sie jetzt bemerken werden, als Abenteuer. Was tut der Mensch, wenn er in einem albanischen Halbhochhaus mit etwas dreißig Parteien ohne Wasser ist? Einiges. Morgens, ich bin kaum aufgestanden, stehen unten im Hof des Hauses wenigstens acht Frauen. Manche mit umgebundener Schürze, manche ganz in Zivil. Sie schreien, nein, sie brüllen. Genau: Sie machen einen Aufstand. Aus etwa vier weiteren Fenstern hängen weitere Frauen ihre Köpfe und beteiligen sich aktiv am Geschehen im Hof. Ich sehe nicht, gegen wen sie anbrüllen, aber es muss jemanden geben, vor dem sie sich unten im Hof versammeln und dem ihr ganzer Unmut gilt. Der Aufstand ist, wie ich finde, sehr berechtigt. Es geht um ihr Leben. Anders als ich, können sie nicht sagen, in gut drei Wochen bin ich wieder zuhause, nächste Woche bin ich eh auf Reisen, und wenn ich genug habe von allem hier, dann miete ich mich einfach mal für zwei Tage im Hotel ein und lasse das Wasser rund laufen. Ich halte den Aufstand im Hof also für mehr als angemessen. Er führt zu etwas. Etwa fünfzehn Minuten nach Beginn des Aufstands beginnt ein heftiges Klopfen an allerlei Rohren im Hof, an Wänden und Kesseln und weiß der Teufel was noch und die Stimmen der Frauen werden leiser. Etwa ein bis zwei Stunden dauert der Handwerker-Lärm, dann rauscht das Wasser. Es wird ruhiger im Haus. Aus der einen oder andern Wohnung hört man Arbeitsgeräusche, wahrscheinlich läuft jetzt die Waschmaschine oder es wird abgespült. Alles ist gut. Aber alles muss auch rasch erledigt werden, weil alle wissen: ein Wasserrausch endet abrupt. So ist es! Zwei Stunden später sprudelt die Klospülung noch einmal, der Wasserhahn rotzt ein paar letzte Tropfen, dann ist wieder Schluss.
Als ich heute am Nachmittag aus der Stadt zurück kam, stand das Haus im Hof: Frauen und Männer in lautstarkem Unmut. Ein Tankwagen parkte in der Einfahrt. Ein Schlauch führte in den Keller. Wasser lief aber keines. Das ist bis jetzt so. Noch bis vor kurzem standen unten im Hof die Männer. Sie redeten auf jemanden ein und diskutierten. Aus dem Fenster streckten Frauen ihre Köpfe. Ich weiß nicht, wieviel Lebenszeit sie das alles kostet, aber wenig ist das nicht. Und auch wenn ich keine Ahnung habe, wer am Ende älter werden wird, sie oder ich, kommt mir mein eigener Zustand luxuriös vor. Ich sitze hier und schreibe alles auf. Und der Lärm, ganz egal ob von unten oder aus der Ehekrise von nebenan, ist genauso wie der Wassermangel eine einstweilige Erscheinung.
Heute hat es den ganzen Tag geregnet in Tirana ;)
ReplyDeleteIch kann jetzt auf den Workshop einfach nicht länger warten
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